Wie steht es um die Umsetzung der Kinderrechte?

Einblicke in die erste Kinderrechte-Studie in der Schweiz und Liechtenstein aus Kinder- und Jugendsicht. Von Tobias Kindler und Gianluca Cavelti

UNICEF Schweiz und Liechtenstein und das Institut für Soziale Arbeit und Räume (IFSAR) des Departements Soziale Arbeit der OST – Ostschweizer Fachhochschule haben gemeinsam von November 2019 bis Juni 2020 Kinder und Jugendliche im Alter von neun bis siebzehn Jahren zur Teilnahme an einer Online-Umfrage eingeladen. Ziel der Befragung war es, aus der Perspektive von Kindern und Jugendlichen zu erfahren, wie es um die Umsetzung der Kinderrechte in der Schweiz und Liechtenstein steht. An der Umfrage nahmen insgesamt 1715 Kinder und Jugendliche – 1428 aus allen Sprachregionen der Schweiz und 287 aus Liechtenstein – teil. Zu erwähnen ist, dass sich die Schweiz und Liechtenstein während des Befragungszeitraumes aufgrund der Covid-19-Pandemie zeitweise im (Teil-)Lockdown befanden. Inwieweit die Massnahmen und Erfahrungen der Kinder und Jugendlichen das Ergebnis der Befragung beeinflusst haben, wurde jedoch nicht systematisch ausgewertet.

Die Studie thematisiert entlang der Förder-, Schutz- und Beteiligungsrechte eine zentrale Bandbreite an Rechten innerhalb der Lebensbereiche Familie, Schule, Freizeit und Wohnort (siehe Abbildung 1). Durch diese vielfältigen Themenfelder der Kinderrechte-Studie gelingt es, ein umfassendes Bild über die Lebensbedingungen der Kinder und Jugendlichen aus ihrer eigenen Perspektive zu erhalten. Zudem konnte umfassend erfragt werden, welche Veränderungen ihrer Einschätzung nach nötig sind, um die Umsetzung der Kinderrechte sowohl in den einzelnen Lebensbereichen als auch gesamtheitlich zu verbessern. Die Studie weist in allen Bereichen auf Herausforderungen und Lücken in der Umsetzung der Kinderrechtskonvention in der Schweiz und Liechtenstein hin. Die Ergebnisse verdeutlichen ausserdem, dass auf die Situation armutsbetroffener Kinder und Jugendlicher ein besonderer Fokus gelegt werden muss, damit auch sie ihre Rechte wahrnehmen können.

Recht auf Förderung und Wohlbefinden: Weniger Leistungsdruck, mehr Freiräume!
Mit Blick auf Förderung und Wohlbefinden und die dazu abgefragten Aspekte des Zuhörens und der verfügbaren Zeit von Bezugspersonen kann über die Lebensbereiche Familie, Schule und Freizeit hinweg eine positive Bilanz gezogen werden. In diesen drei Lebensbereichen geben die Kinder und Jugendlichen an, dass Erwachsene ihnen mehrheitlich zuhören und sich Zeit für sie nehmen. Für den Lebensbereich Wohnort fällt das Ergebnis dagegen deutlich tiefer aus. Mehr als ein Viertel der Kinder und Jugendlichen geben an, dass Erwachsene am Wohnort, zum Beispiel Politiker:innen, nie oder selten zuhören (26 Prozent) und keine oder wenig Zeit für sie haben (31 Prozent). Hinsichtlich des sozioökonomischen Status zeigt sich ausserdem, dass Erwachsene Kindern und Jugendlichen, die von materieller Armut betroffen sind, in allen Lebensbereichen weniger häufig zuhören und seltener Zeit für sie haben.

Bezogen auf die offen gestellte Frage, was sich ändern müsste, damit sich Kinder und Jugendliche in den jeweiligen Lebensbereichen wohler fühlen, wünschen sie sich vor allem: weniger Streit, weniger psychische und physische Gewalt, weniger Leistungsdruck, mehr Mitbestimmung und häufig auch eine Veränderung der räumlichen Gegebenheiten zu Hause, in der Schule und am Wohnort.

Insgesamt hat sich bei den Förderrechten und dem Wohlbefinden insbesondere in den Lebensbereichen Freizeit und Wohnort gezeigt, dass nicht alle Rechte vollumfänglich umgesetzt werden und Verbesserungen anzustreben sind. Fast jedem fünften Kind (17 Prozent) mangelt es an Freiräumen, wo es spielen, sich mit Freunden und Freundinnen treffen und oder sich entspannen kann. Fast genauso viele (15 Prozent) meiden Orte aufgrund von Lärm, Schmutz oder Gewalt. Am Wohnort, also bspw. in der Gemeinde oder im Quartier, wünscht sich fast jedes vierte Kind (23 Prozent) mehr oder bessere Freizeitangebote sowie Spiel- und Freiräume. Damit ist es der meistgenannte Veränderungswunsch in diesem Lebensbereich.

Des Weiteren zeigt die Studie, dass gut ein Drittel (36 Prozent) der Kinder und Jugendlichen unter der Woche nur über «mittel», «wenig» oder «gar keine» Zeit verfügen, um sich zu entspannen und zu erholen. Insbesondere die Fünfzehn- bis Siebzehnjährigen weisen hierbei tiefe Werte auf (siehe Abbildung 2). Wenig Freizeit und zu hoher Leistungsdruck sind zudem die Hauptthemen, bei welchen sich die Kinder und Jugendlichen eine Veränderung wünschen.

Recht auf Schutz und gewaltfreies Aufwachsen: Gewalt und Diskriminierung entgegenwirken!
Beim Recht auf Schutz und gewaltfreies Aufwachsen lässt sich hinsichtlich des Sicherheitsempfindens in allen Lebensbereichen eine positive Bilanz ziehen. Die Mehrheit der Kinder und Jugendlichen fühlt sich in Familie, Schule, Freizeit und Wohnort sicher oder sehr sicher. Am besten fallen dabei die Ergebnisse in den Lebensbereichen Familie und Freizeit aus. Bezogen auf die Schule geben jedoch immerhin fast 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen an, sich nur mittelmässig bis gar nicht sicher zu fühlen und im Internet ist es sogar fast ein Drittel (32 Prozent).

Obwohl sich die Kinder und Jugendlichen grundsätzlich sicher fühlen, gehören Diskriminierung sowie Gewalt und Strafen innerhalb der Familie und im schulischen Kontext zum Alltag vieler Kinder und Jugendlicher. Nahezu alle befragten Kinder und Jugendlichen in der Schweiz und Liechtenstein sind in irgendeiner Form von Strafe und/oder Gewalt betroffen. Der Vergleich über die Lebensbereiche hinweg macht deutlich, dass Kinder und Jugendliche von Mitschüler:innen am häufigsten physische (32 Prozent) und psychische (43 Prozent) Gewalt erfahren. Aber auch von den Eltern (physisch: 29 Prozent / psychisch: 24 Prozent) sowie Lehrpersonen (physisch: 3 Prozent / psychisch: 12 Prozent) erfahren Kinder und Jugendliche in der Schweiz und Liechtenstein beide Formen der Gewalt. Zudem erleben fast drei Viertel der Kinder und Jugendlichen in der Familie (65 Prozent) und gut ein Drittel der Kinder und Jugendlichen in der Schule (35 Prozent) Strafen. Von materieller Armut betroffene Kinder und Jugendliche sind dabei einem höheren Risiko ausgesetzt, Gewalt- und Straferfahrungen zu machen, als nicht armutsbetroffene Kinder und Jugendliche.

Neben den Themen Sicherheitsempfinden und Gewalterfahrung wurden die Kinder und Jugendlichen auch nach Diskriminierungserfahrungen gefragt. Mit 41 Prozent waren viele Kinder und Jugendliche in der Schweiz und Liechtenstein mindestens schon einmal Diskriminierung ausgesetzt (siehe Abbildung 3). Dabei geben Mädchen mit 9 Prozent mehr als doppelt so häufig an, sich wegen ihres Geschlechts diskriminiert zu fühlen als Jungen (4 Prozent). Auch hier zeigt sich, dass das Risiko, Diskriminierungserfahrungen zu machen, steigt, je stärker Kinder oder Jugendliche von materieller Armut betroffen sind. Aber auch Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund sind häufiger Diskriminierungen ausgesetzt (Der Migrationshintergrund wurde in der Umfrage nicht explizit erhoben. Wir beziehen uns bei diesen Aussagen jeweils auf jene Kinder und Jugendlichen, die keinen Schweizer oder Liechtensteinischen Pass besitzen). In den offenen Antworten der Studie verdeutlichen die Kinder und Jugendlichen immer wieder, dass es ihnen ein Kernanliegen ist, weniger Gewalt, Mobbing und Rassismus zu erfahren.

Recht auf Mitsprache und Beteiligung: Schule und Wohnort haben Nachholbedarf!
Bei den Mitsprache- und Entscheidungsmöglichkeiten der Kinder und Jugendlichen weisen insbesondere die Lebensbereiche Familie und Freizeit positive Werte auf. Die Lebensbereiche Schule und Wohnort, also die Gemeinde- und Quartiersebene, fallen dagegen durch geringe Werte auf. Während die Kinder und Jugendlichen in der Familie am häufigsten nach ihrer Meinung gefragt werden, gibt beinahe die Hälfte (46 Prozent) der Kinder und Jugendlichen an, an ihrem Wohnort selten oder nie nach ihrer Meinung gefragt zu werden. In den drei anderen Lebensbereichen bewegen sich diese Werte zwischen 8 und 13 Prozent. Hinzu kommt, dass fast ein Drittel der Kinder und Jugendlichen (30 Prozent) nicht wissen, an wen sie sich wenden müssten, wenn sie an ihrem Wohnort etwas verändern möchten. Dies steht in einem starken Kontrast dazu, dass in den offenen Antworten politische Mitsprache und Mitbestimmung als zentrale Anliegen der befragten Kinder und Jugendlichen zur Sprache kommen. Von materieller Armut betroffene Kinder und Jugendliche werden im Schnitt durch alle Lebensbereiche hinweg von Erwachsenen weniger nach ihrer Meinung gefragt.

Blicken wir auf die Möglichkeiten der Kinder und Jugendlichen, zu zentralen Themen (mit-)entscheiden zu können, zeigt sich, dass in der Schule mehr als die Hälfte (55 Prozent) nicht in Entscheidungsprozesse miteinbezogen wird (siehe Abbildung 4). In Anbetracht dessen, dass die Schule der Ort ist, an dem die Kinder erfahren sollen, ihre Meinungen und Überzeugungen kundzutun und zu partizipieren, wäre hier grundsätzlich ein höheres Ergebnis zu erwarten gewesen. Denn in den Lehrplänen ist der Aspekt, dass überfachliche Kompetenzen und vor allem die Meinungsbildung und Partizipation gezielt gefördert werden sollen, explizit verankert.
Es bleibt also festzuhalten, dass Partizipation vor allem in den Lebensbereichen Schule und Wohnort noch nicht ausreichend gelebt und umgesetzt wird und speziell die älteren Jugendlichen wenig Mitwirkungsmöglichkeiten sehen.

Vulnerable Kinder und Jugendliche: Für gleiche Chancen sorgen!
Auch wenn die Kinderrechte-Studie keinen expliziten Fokus auf die Untersuchung der Situation von armutsbetroffenen Kindern und Jugendlichen legte, zeigt sich, dass insbesondere von materieller Armut betroffene Kinder und Jugendliche ihre Rechte nur bedingt wahrnehmen können und nicht über dieselben Möglichkeiten und Chancen verfügen wie andere Kinder und Jugendliche in der Schweiz und Liechtenstein. Diese Erkenntnis zieht sich durch alle Lebensbereiche und Rechte hindurch. So werden sie weniger oft nach ihrer Meinung gefragt (siehe Abbildung 5), fühlen sich von materieller Armut betroffene Kinder und Jugendliche in allen Lebensbereichen weniger sicher, werden nur in geringerem Masse in Entscheidungsprozesse einbezogen, erleben häufiger Diskriminierung und machen in der Familie mehr Gewalterfahrungen. Ausserdem verfügen sie im Durchschnitt über weniger Bezugspersonen, an die sie sich mit Problemen und Geheimnissen wenden können.

Fehlende materielle Absicherung bedeutet für Kinder und Jugendliche folglich nicht nur eine Beschneidung ihres Rechtes auf einen angemessenen Lebensstandard, sondern behindert sie weitreichend darin, ihre Rechte wahrzunehmen. Aus Kinderrechtsperspektive ist dieses Ergebnis besonders besorgniserregend. Es braucht daher verstärkt Massnahmen, damit diese Kinder und Jugendlichen nicht systematisch benachteiligt werden und auch ihre Rechte gewährleistet sind. Es ist daher zentral, dass in der Schweiz und Liechtenstein konsequent gegen Kinderarmut vorgegangen wird.

Der ausführliche Forschungsbericht sowie der im Rahmen des laufenden Staatenberichtsverfahrens beim UN-Kinderrechtsausschuss in Genf eingereichte Alternativbericht können HIER heruntergeladen werden.

Weitere Informationen zum Projekt finden Sie hier.