Selbstbestimmte Teilhabe im Pflegeheim

Alte Menschen in stationärer Pflege haben nicht nur Anspruch auf hochwertige medizinische und pflegerische Versorgung, sondern auch auf ein selbstbestimmtes und würdiges Leben, das ihnen weiterhin ermöglicht, am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Da pflegebedürftige Menschen gleichzeitig mit Behinderungen leben, leitet sich dieser Anspruch u.a. von der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ab.

Die Pflegeeinrichtungen haben eine lange Tradition der Aktivierung über Kreativ-, Kultur-, Spiel-, Sportangebote, Ausflüge u.a.m. Viele verfügen über mehr oder weniger flexibilisierte Essens- und Bettzeiten und Wahlmöglichkeiten bei den Menus. Reicht das für die Verwirklichung von Selbstbestimmung und Teilhabe, oder bleiben diese bloss viel benutzte Schlagwörter ohne klare Bedeutung?

Nach dem Befähigungsansatz (Capability Approach), der auf Amartya Sen und Martha Nussbaum zurückgeht, bedeutet gerechte Teilhabe einerseits gleiche Teilhabeoptionen oder -chancen zu haben, andererseits durch diese Optionen aber auch gleichwertige Teilhabe tatsächlich erreichen zu können. Beides hängt von sowohl persönlichen als auch gesellschaftlichen Bedingungen sowie der Verfügbarkeit von Ressourcen ab. Die Verwirklichung des Rechts auf selbstbestimmte Teilhabe ist also von verschiedenen Faktoren abhängig, die sich gegenseitig beeinflussen.

Ein zentraler Aspekt von Teilhabe ist die Subjektorientierung. Das bedeutet, dass gesellschaftliche Bedingungen aus Sicht des Subjekts beurteilt werden, nämlich darauf hin, welche Möglichkeiten und Spielräume sie ihm eröffnen. Deshalb ist eine Auswahl zwar wichtig. Aber eine bloss beschränkte Auswahl an Angeboten – und eine Auswahl an Gelegenheiten, in denen überhaupt gewählt werden kann, reicht nicht aus. Vielmehr bilden die Wünsche und Bedarfe der einzelnen Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohner den Ausgangspunkt. Nur aus ihnen wird deutlich, in welchen Bereichen eine Auswahlmöglichkeit für welche Bewohnenden überhaupt wichtig ist und welche Möglichkeiten die Auswahl umfassen soll.

Daraus folgt, dass selbstbestimmte Teilhabe nur mit partizipativen Zugängen möglich ist. Gelegenheiten, seine Wünsche zu äussern, müssen regelmässig und systematisch geschaffen werden, z.B. beim Eintritt, aber auch immer wieder individuell, ergänzt durch kollektive Formen wie Bewohnerräte oder ähnliches. Dabei sind allerdings verschiedene Hindernisse zu überwinden: Ein grosser Teil der heute in Pflegeheimen wohnenden Generation ist es teilweise kaum gewohnt, Ansprüche zu stellen oder überhaupt Wünsche zu haben. Ausserdem nehmen viele den Eintritt in eine stationäre Einrichtung automatisch als grundlegende Einschränkung ihrer Autonomie wahr und haben deshalb Angst davor: Im Umkehrschluss möchten sie erst dann ins Heim, wenn sie nicht mehr autonom leben können, und erwarten deshalb auch nicht, dass Reste von Selbstbestimmung bestehen bleiben oder wiederhergestellt werden.

Zudem ist ein Teil der Bewohnenden kommunikativ oder kognitiv eingeschränkt, was die Verständigung über Wünsche und Bedürfnisse noch anspruchsvoller macht. Nicht nur die Verwirklichung von Teilhabechancen, sondern schon die Erforschung der Bedürfnisse braucht Ressourcen und methodische Zugänge, die nicht immer zur Verfügung stehen (oder zu stehen scheinen). Letztlich ist aber entscheidend, wie die Teilhabeorientierung in den Strukturen und Prozessen der Organisation sowie in der Haltung der Mitarbeitenden, kurz in der gesamten Organisationskultur, verankert werden kann.

In den Appenzeller Pflegeheimen wird dies im Rahmen eines Pilotprojektes, das aktuell in der Hälfte steht, ausprobiert. Für drei Jahre ist die Sozialarbeiterin Andrea Herger angestellt, um die Heime und ihre Bewohnenden in der Verwirklichung der Selbstbestimmung und Teilhabe zu unterstützen. Durch diese zusätzliche personelle Ressource und neue fachlich-methodische Kompetenzen sollen einzelne Bewohnende unterstützt und die Teilhabekultur in den Heimen etabliert werden. Finanziert wird der Pilotbetrieb von einer gemeinnützigen Stiftung, der Pro Senectute und vom Kanton Appenzell Innerrhoden.

Dass die Fachstelle ihre Ziele erreichen könnte, zeigt sich bereits an Projekten wie der „Mektig-Losi“, einem Transportdienst zwischen Heimen und Dorfzentrum, und den in zwei der drei Heimen etablierten „Stammtisch“. Die Bewohnenden wählten diese Bezeichnung für den verbreiteten „Bewohnendenrat“ vor. Die Heimleitungen nehmen dort geäusserte Anregungen sehr ernst und berichten regelmässig u.a. in der Heimzeitung über erfolgreiche Umsetzungen oder auch Hindernisse, die diese (noch) erschweren. Dass Veränderungen in der Teilhabekultur aber auch tiefer zu greifen beginnen, zeigt das überwältigende Interesse des Personals an einem internen Weiterbildungsangebot das die Sozialarbeiterin ausgeschrieben hat.

Die Pilotphase der „Fachstelle für Soziale Teilhabe im hohen Alter“ wird von der OST mit einer qualitativen Wirkungsevaluation begleitet.