Die südlichste Bucht am Bodensee

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„Dieser Blick ins Weite ist wie Medizin“, sagte Alphons Bernardi, Mieter auf der 10. Etage des Hochhauses „Thurgauerstrasse 33“, anfangs Mai im „Cafe Terrasse“. Hoch über den Dächern Rorschachs verwandelte sich eine baufällige, unmöblierte Dachterrasse in ein Café mit In-Lokal-Qualitäten: gelb-rote Stoffbahnen im Wind, Barhocker, Liegestühle, charmante Butler-Damen und ein atemberaubender Blick über Stadt und See.

Inventarliste
„Wer hier oben gestanden hat, sieht Rorschach in einem neuen Licht“, war am nächsten Morgen im Tagblatt (Ausgabe vom 2. Mai) zu lesen. Rorschach sei viel schöner als viele sagen, lautete eine der wichtigsten Erkenntnisse der über hundert Gäste. Dieses Zitat dient „Schatz am Bodensee“, dem fünften Streich in der Reihe „Stadt als Bühne“, als Ausgangspunkt für eine sozialräumliche Intervention Sozialer Arbeit nach den Prinzipien des Empowerments: In Zusammenarbeit mit Studierenden der FHS St.Gallen, Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Fachbereich Soziale Arbeit, unternehmen Mark Riklin und Selina Ingold den Versuch, zuhanden der Öffentlichkeit eine Inventarliste der Schätze Rorschachs zu erstellen.

Schatzkarte in Weltformat

Und so werden die angehenden Fachleute der Sozialen Arbeit kommenden Dienstag auf dem Marktplatz auf Stimmenfang gehen, die Bevölkerung auf verlorene, verschüttete und noch schlummernde Schätze ansprechen, um diese auf einer Schatzkarte in Weltformat einzuzeichnen. Eine Vorrecherche hat erste Fundstücke zu Tage befördert. So zum Beispiel das Haus „Zum Hans Sachs“ an der Neugasse 18, gemäss Verzeichnis der geschützten Bauten Rorschachs das Kulturobjekt Nummer 11: eine neubiedermeierliche Fassade mit feinen Anklängen an den Jugendstil und einem Porträt des Nürnberger Schuhmachers und Poeten Hans Sachs. Ein Stück Alt-Rorschach, wie es vor allem in der westlichen Kernzone selten geworden ist. Aus Sicht der selbsternannten Schatzgräber ein vergessener Schatz, der in seine Einzelteile zu zerfallen droht, wenn dessen Wert nicht bald erkannt wird.

Primavera-Gefühle
Rorschach sei eine „malerische Hafenstadt mit südländisch anmutendem Flair“, heisst es auf der grossen Informationstafel beim Marktplatz in einer Selbstbeschreibung der Stadt. Und tatsächlich, Rorschach liegt nicht nur geografisch an der südlichsten Stelle des Bodensees, sondern zeigt deutliche Anzeichen einer Stadt, die vom Einfluss und der Lockerheit fremder Kulturen geprägt ist: Klein-Istanbul, Little Italy, der Bocciaclub Feldmühle-Primavera oder das „la vela“. Diesen Sommer sei sie sich an der Seepromenade vorgekommen wie am Mittelmeer, meint eine einheimische Passantin. Ein schlummernder Schatz, den es zu entdecken, zu entwickeln und zu erweitern gilt?

Hafenglogge im Exil
Als Mentor konnte für „Schatz am Bodensee“ Hafenmeister Urs Grob gewonnen werden: ein eingefleischter Rorschacher, dessen leidenschaftliche Einfahr- und Anschlussmeldungen der Bodensee-Schiffe wie aus einem Märchen klingen. Ebenso legendär ist Grobs inniges Verhältnis zur Hafenglogge, an der er heftig zu ziehen pflegte, solange sie noch im Hafenareal hing. Seit diesem Sommer ist das ehrwürdige Relikt aus alten Tagen spurlos verschwunden, von einem Tag auf den anderen. Im Exil sei sie, wird gemunkelt, im Kornhaus zwischengelagert, bevor sie in einer Giesserei revidiert werden soll. Ein verlorener Schatz?

Glöckner von Rorschach
Am Dienstagmittag ab 13 Uhr werden vor dem Hafenmeister-Büro am Kabisplatz die Ergebnisse der Schatzsuche vorgestellt. Eine Stunde lang fallen die „Sprachrohre“ des Hafens in die Hand der Schatzgräber, Hafenmauer und Leuchtturm mutieren im Hintergrund zur szenografischen Bühne einer Stadt, die sich ihrer Schätze bewusst wird und zu neuen Ufern aufmacht. Beispielsweise die erste Stadt zu werden, die den öffentlichen Dienst um neue Berufe erweitert: um einen Schatzgräber, der verschüttete Kostbarkeiten hebt und Schätze vor dem Verschwinden rettet; oder einen Glöckner, der den Jakobsbrunnen, dessen Glocke noch heute täglich zweimal zum Ave läutet, wieder von Hand betreibt.

„Schatz am Bodensee“ findet im Rahmen eines Medienseminars der FHS St.Gallen statt, in dessen Verlauf Ereignis- und Medienproduktion im realen Raum erprobt werden sollen.

Foto: Rudolf Hirtl
Text: Mark Riklin

Wörtlich: Masslos verliebt
„Ich mag Orte, deren Schönheit eines zweiten Blicks bedürfen. Rorschach bedarf eines zweiten Blicks: sonntägliches Picknick am See, freier Blick an fremde Ufer, nächtliche Ästhetik eines zu gross geratenen Bahnhofs, verwinkeltes Schmusergässli und Schilte-Sechsi, stiller Kreuzweg im alten Friedhof, Pianomusik im Restaurant Schnell, weisse Schiffe im Hafen, die Fernweh wecken und an Sonntagen touristische Hoffnungen karikieren. Die Blau-Nuancen des Sees bestimmen die Farbe der Stadt. Rorschach ist blau.“
Reto Eugster, vor zwei Jahren nach Rorschach zurückgekehrt.

Begriff: Empowerment
Der Begriff „Empowerment“ entstammt der amerikanischen Gemeindepsychologie und wird mit dem Sozialwissenschaftler Julian Rappaport (1985) in Verbindung gebracht. In der Sozialen Arbeit bildet Empowerment einen Arbeitsansatz ressourcenorientierter Intervention, die ihren Blick auf die Stärken von Orten und Menschen richtet.