Angeführt vom Frühlingsboten tragen Bahnhofsvorstand, Badenixe, Seebär & Co. Rorschach in eine lebendige Zukunft
Nach dem Sammeln von „Fragen an eine Stadt“ (März 2008) und ersten Antworten beim „Stammtisch-Gepolter“ (Oktober 2008) beschäftigen sich 60 Studierende der FHS St.Gallen, Fachbereich Soziale Arbeit, mit Fragen rund um die Identität der Stadt Rorschach.
„Feldmühle“, Bau 8, Donnerstagnachmittag. „Betreten auf eigene Gefahr“ ist hier ein ungeschriebenes Gesetz, das keiner weiteren Ausformulierung bedarf. Zu imposant und von abschreckender Wirkung sind die grossen Tank-Löcher im ehemaligen Kesselraum, die das Tempo der ankommenden Gäste wie von selbst verlangsamen lassen. Vorsicht ist geboten, will man nicht unfreiwillig in die untere Etage fallen, in die Abgründe des berüchtigten Säurekellers.
Zeitzeuge
60 Studierende der FHS St.Gallen, Fachbereich Soziale Arbeit, haben auf den Betonsockeln der ehemaligen Holzgalerie Platz genommen, wo noch fester Boden unter den Füssen spürbar ist, um sich von Richard Lehner, „Feldmühle“-Buchautor, einführen zu lassen in Geschichten und Gerüch(t)e rund um die ehemalige Stickerei- und Kunstseide-Fabrik. Ob der löchrige Boden der Belastung wohl standhalte, fragen sich die Gäste, sich möglichst still verhaltend und die löchrigen Zonen meidend.
Schwefeldünste
In einer staubigen Ecke liegt eine vergessen gegangene Atemschutzmaske, ein Relikt aus vergangener Zeit. Und noch immer hängt ein leichter Schwefelgeruch im Raum, der sich an Wänden und Decken festzukrallen scheint, um an die schlechten Arbeitsbedingungen im berüchtigten Bau 8 zu erinnern. „Hier gelangte zu Zeiten der Kunstseide-Produktion Viscose in ein fliessendes Spinnbad aus verdünnter Schwefelsäure, Natrium- und Zinksulfat“, sagt Richard Lehner: „Hier arbeitete nur, wer nicht anderswo eine Anstellung fand. Und hier wurden viele krank, Schwefeldünste führten zu Magenbluten, verätzten Augen und Nierenleiden.“
Rorschach-Aroma
Auch ausserhalb der Feldmühle-Fabrik machte sich die Geruchsbelästigung bemerkbar, sagt Richard Lehner: Die Kamine hätten einen unerträglichen Gestank nach Jauche und faulen Eiern verbreitet, das typische Rorschach-Aroma. „In Rorschach wusste man immer, woher der Wind wehte.“ Die Feldmühle-Fabrik sei aber alles andere als nur Fluch, sondern vor allem auch ein Segen für die Stadt gewesen, sagt Lehner. Die Feldmühle schaffte zu Spitzenzeiten bis zu 1800 Arbeitsplätze, halb Rorschach gehörte zur Feldmühle, eine Stadt in der Stadt. Die Feldmühle prägte das kulturelle Leben mit dem ersten permanenten Kino, Tanzlokalen, Bars. Die Stadt boomte.
Identitätskrise
Rorschach blickt zurück auf eine blühende Vergangenheit als Industriestadt. Seit der Schliessung der Feldmühle-Fabrik anfangs Achtzigerjahre ist allerdings ein Vakuum entstanden, das bis heute nicht richtig gefüllt ist. Jahrzehnte lang war von einer tiefen Identitätskrise zu lesen. Inzwischen scheint die Talsohle durchschritten. Selbst das Schweizer Fernsehen hat die Trendwende zur Kenntnis genommen und der „kleinen Stadt am Bodensee“ anfangs Jahr unter dem Titel „Stadt im Aufwind“ einen anerkennenden Beitrag auf Schweiz Aktuell gewidmet und in ein neues Licht gerückt.
Aufbruchstimmung
Dieser Tage spürt Rorschach den Frühling. Ein guter Zeitpunkt, über eine neue Identität nachzudenken. Unter der Regie von Selina Ingold und Mark Riklin machen sich kommende Woche 60 Studierende der FHS St.Gallen, Fachbereich Soziale Arbeit, auf den Weg, diese Aufbruchstimmung aufzunehmen und auf der Grundlage der früheren Identität als Industriestadt Antworten auf die Frage zu er-finden, in welche Richtung Rorschach in Zukunft steuern könnte.
Gedankenspiel
Als Inspirationsquelle und Assoziationsfeld dienen den 60 Studierenden drei Fundstücke unterschiedlichster Herkunft, Selbstbeschreibungen und Zuschreibungen, die Rückschlüsse auf Identität und Image einer Stadt ziehen lassen: die Begrüssungstafel „Gastliche Hafenstadt“ am östlichen Eingangstor, das geografische Faktum als „südlichste Bucht am Bodensee“ (Tourismus-Broschüre St.Gallen-Bodensee) und der zweifelhafte Ruf als „Stadt der Bahnschranken“ (St.Galler Tagblatt).
Ad-hoc-Einwohnerrat
Ob sich aus diesen Fragmenten eine Bühne für die Zukunft zimmern lässt? Als Eckpfeiler einer neuen Identität, einer blühenden Tourismusstadt vielleicht? Die Ergebnisse des Gedankenspiels werden am Dienstagnachmittag, den 17. März 2009, ab 14 Uhr auf einem GedankenGang der Öffentlichkeit vorgestellt. Ein Ad-hoc-Einwohnerrat wird anschliessend im Restaurant Rheinfels (Mariabergstrasse 5) zu einzelnen Vorschlägen Stellung beziehen. Ausgangspunkt für den GedankenGang ist die Hafenmauer.
Text: Mark Riklin
Illustration: Corinne Bromundt
Von der Eigenlogik einer Stadt
Um zu verstehen, wie eine Stadt „tickt“, welche Ideen in ihr generiert, welche realisiert und schliesslich akzeptiert werden, muss man sie wie einen Organismus betrachten, der wie ein Mensch einen Charakter ausbildet und über eine Biografie verfügt, die sich im Stadtbild repräsentiert.
Jede Stadt ist anders. Jeder Stadt ist eine Eigenlogik eigen. Zum besonderen Identitätsgefühl einer Stadt gehört, wie schnell oder gemächlich man sich mit den Menschenströmen bewegt, wie hell die als angenehm empfundene Strassen-beleuchtung ist, oder wie empfindlich die Leute auf Lärm reagieren.
Aus: Martina Löw: Soziologie der Städte. 2008.