Dem digitalen Wandel mit methodischem Optimismus begegnen

An der diesjährigen Bodenseetagung der Fachhochschule St.Gallen und des Berufsverbands AvenirSocial Sektion Ostschweiz liessen sich rund 180 Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf das Experiment «Soziale Arbeit 4.0» ein und tauchten einen Tag lang ab in die unterschiedlichsten Erlebniswelten.

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Gianfranco Giudice arbeitet für die Schweizerische Stiftung «Zugang für alle». Er testet Webseiten auf ihre Zugänglichkeit. Gianfranco Giudice ist blind und darauf angewiesen, dass Webseiten und Software möglichst barrierefrei zugänglich sind. Selber nutzt er Computer, Laptop und Smartphone täglich. «Dank Screenreader und Blindenschrift-Display kann ich autonom arbeiten, interagieren und mich informieren», sagt er und betont, wie wichtig ihm diese Selbstständigkeit sei. Beispielsweise bei den Behördenformularen: «Wenn es darum geht, persönliche Angaben zu machen, möchte ich das selber tun.» Der Zugang zu digitalen Angeboten sei für Menschen mit einer Beeinträchtigung sehr wichtig, da es für sie oft keine anderen Möglichkeiten zur Information oder Interaktion gebe.

Achterbahn fahren und mit dem Roboter tanzen
«Digitale Exklusion und Inklusion» war eines von mehreren Themen, die an der Bodenseetagung der Fachhochschule St.Gallen vom Mittwoch, 28. November, erstmals in sogenannte Erlebniswelten gepackt wurden. Das Motto der diesjährigen Tagung war die «Soziale Arbeit 4.0». Die rund 180 Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten am Morgen die Möglichkeit, in die digitalen Erlebniswelten einzutauchen. Sie waren gemäss Stefan Ribler, Mitorganisator und Dozent im Fachbereich Soziale Arbeit der FHS St.Gallen, gefordert, sich in den Erlebniswelten individuell zu bewegen.

Auf einem Rundgang erfuhren die Teilnehmenden, was heute elektronisch gang und gäbe ist, morgen auf sie zu kommt und übermorgen möglich sein wird. Die Vielfalt der Erlebniswelten erstreckte sich vom «Gamen – aus der Sicht von Problemlagen» über die «Peer-Online-Beratung» bis hin zur «Schwarmintelligenz: Wie die Masse Probleme löst». Zu Erfahrungen der ganz besonderen Art kam es mit der Virtual-Reality-Brille: Während die einen die rasante Achterbahnfahrt in der virtuellen Welt lauthals genossen, hatten die anderen auf dem Dach eines Hochhauses mit Angstzuständen und Schweissausbrüchen zu kämpfen. Für viel Aufmerksamkeit sorgte auch NAO, der neue Roboter im Living-Lab des Interdisziplinären Kompetenzzentrums Alter IKOA-FHS. NAO kann tanzen und macht Gymnastik, er legt sich auf den Rücken, hebt den Arm und sagt, wie es ihm geht, wenn man ihn fragt und ihm dabei in die Augen schaut.

Soziale Kompetenzen fördern
Der Nachmittag stand ganz im Zeichen der Auswirkungen der Digitalisierung auf die Soziale Arbeit. In sogenannten «Denkinseln» tauschten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer über das Erlebte vom Vormittag aus. Danach fanden Kurzreferate statt. Medienwissenschaftlerin und Digitalisierungsexpertin Sarah Genner sagte: «Die Soziale Arbeit gilt im Zusammenhang mit der Digitalisierung als nicht gefährdete Berufsgruppe. Aber es kommen neue Aufgaben hinzu.» Sie nannte Beispiele wie Menschen unterstützen, die aufgrund des technologischen Wandels nicht mehr mitkämen, die sich mit ihren Kompetenzen nicht mehr wertgeschätzt fühlten oder ihren Job verloren hätten. «Noch wichtiger aber wird die Förderung von sozialen Kompetenzen wie Empathie, Teamfähigkeit und Gesprächskultur sein», betonte sie. Denn diese gehörten genauso zum «Digitalen IQ» wie kritisches Denken, Bildschirmzeit oder Verständnis von Privatsphäre.

Reto Eugster, Bildungswissenschaftler und Dozent an der FHS St.Gallen, warnte vor den drei «Monstern der Digitalisierung»; dem Kontrollverlust, der Risikowahrnehmung und der Normalität des Alltags. Er forderte die Anwesenden auf, offen gegenüber den neuen Medien zu sein. «Experimentieren Sie, setzen Sie sich kritisch mit dem Thema auseinander und üben Sie sich in Zuversicht», sagte er. Denn, fuhr er fort, der Wandel werde kein Entweder-Oder bringen, sondern ein Sowohl-als-Auch. Eugster plädierte für einen «methodischen Optimismus» im Umgang mit der Digitalisierung. Roger Märkli, Sozialarbeiter und Bereichsleiter im Jugendnetzwerk Mittelrheintal, sah es ähnlich: «Wir brauchen in der Sozialen Arbeit und im Speziellen in der Offenen Jugendarbeit den Mut, in den digitalen Dschungel hineinzugehen und dort mitzumachen.» Er ermunterte die Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmer, die Monster «links liegen zu lassen» und die Digitalisierung als Chance zu sehen. Für Roger Märkli und für Reto Eugster ist klar, dass es die Soziale Arbeit auch in Zukunft geben wird, und zwar «sowohl die face-to-face-Beratung, als auch die Online-Beratung», wie der Bildungswissenschaftler anfügte. «Die Digitalisierung fördert paradoxerweise die klassische Sozialarbeit, allerdings unter anderen Bedingungen.»

Auf die Frage, ob Jugendliche «zu digital» sein können, sagte Sarah Genner: Das digitale Verhalten von Jugendlichen werde oft an der Zeit gemessen. Viel entscheidender als die Intensität sei jedoch, wie und wofür sie das Internet nutzten.

Ein Preis für alle Selbstvertreter/innen
Zum Abschluss der Bodenseetagung stand die Übergabe eines mit 10 000 Franken dotierten Preises an ein innovatives Sozialprojekt in der Ostschweiz auf dem Programm. Eine Jury rund um die Organisatoren der Bodenseetagung hat die Fachstelle Selbstvertretung des HPV Rorschach als Preisträgerin bestimmt. «Die Fachstelle Selbstvertretung ist ein innovatives, relevantes und aktuelles Sozialprojekt», sagte Jurymitglied Stefan Ribler. Nach fast zehn Jahren Veranstaltungsgeschichte hatten sich die Organisatoren zum Ziel gesetzt, einen Preis für ein soziales Projekt zu vergeben. Geprüft wurden mehrere Projekte. «Die Fachstelle Selbstvertretung erfüllt alle unsere Kriterien: Es hat einen Bezug zur Sozialen Arbeit und zur Region sowie zu Innovation und Aktualität», sagte Barbara Fontanellaz, Leiterin des Fachbereichs Soziale Arbeit an der FHS.

Die Fachstelle Selbstvertretung ermöglicht Menschen mit Beeinträchtigung, die im HPV arbeiten oder wohnen, ihre Selbst- und Mitbestimmung zu fördern und zu stärken. Manuela Breu hat die Fachstelle aufgebaut und leitet sie heute in einem Arbeitspensum von 80 Prozent. Die Fachstelle basiert auf den Erkenntnissen ihrer Bachelor-Arbeit, die sie zum Thema «Politische Teilhabe von Menschen mit geistiger Beeinträchtigung» im Rahmen ihres Studiums der Sozialen Arbeit an der FHS geschrieben hat. Die Freude über den Preis war bei ihr sowie bei den Bewohnerinnen und Bewohnern denn auch gross. Ideen, wofür sie das Geld verwenden würden, gebe es auch schon, sagte ein Bewohner. Noch aber sei nichts spruchreif. Einzig: Es soll allen Selbstvertreterinnen und Selbstvertretern im HPV zugutekommen.

Der Fachbereich Soziale Arbeit der FHS St.Gallen führte die Bodenseetagung in Kooperation mit dem Berufsverband AvenirSocial Sektion Ostschweiz und dem Netzwerk FHS Alumni durch.