Einsamkeit verstehen

Rückblick auf die Fachtagung am Bildungszentrum Gesundheit und Soziales in Chur vom 28.9.2023

„Einsamkeit und Isolation sind schmerzhaft und für Menschen nicht zu ertragen.“ Mit diesem Zitat von Jules Verne unterstrich die selbstständige Pflegewissenschaftlerin Marina Längle die Dringlichkeit des Themas für von Einsamkeit Betroffenen. Ergebnisse verschiedener Studien geben ein uneinheitliches Bild über die Prävalenz bei verschiedenen Altersstufen. Das liegt unter anderem an unterschiedlichen Messkriterien: Einsamkeit ist zuallererst ein schmerzhaftes Gefühl, das sich nicht so einfach messen lässt wie beispielsweise ein hoher Blutdruck. Marina Längle zeigte auf, dass viele alte Menschen im Pflegeheim einsam sind, obwohl sie doch scheinbar in Gesellschaft leben. Sie zeigen oft ein grosses Kontaktbedürfnis gegenüber Pflegenden oder aber ziehen sich resignativ zurück. Auf Aussenstehende wirken sie zuweilen gelangweilt.

Martin Müller vom IFSAR beleuchtete gesellschaftliche Perspektiven auf Einsamkeit. Für ihn betrifft Einsamkeit alle, „weil es Einsamkeit ohne die anderen nicht geben kann“. Das Gefühl der Einsamkeit entsteht durch die Differenz zwischen der Qualität, die man von engen Beziehungen erwartet und derjenigen, die man in ihnen tatsächlich erlebt. Erwartungen beziehen sich etwa auf Verlässlichkeit und Treue, Gegenseitigkeit in der Unterstützung, emotionale Verbundenheit und geteiltes persönliches Wissen über die Welt und das Leben. Sie sind unabhängig vom Lebensalter und werden kulturell und medial mitgeprägt. Enge, verlässliche Beziehungen sind unentbehrlich für die körperliche und psychische Gesundheit: „Wir brauchen andere als Spiegel, damit uns nicht der Wahn ereilt“ (William Shakespeare). Einsamkeit ist ein Begleitgeräusch gesellschaftlicher Veränderungen und ist deshalb wie andere Phänomene mit verschiedenen Widersprüchlichkeiten behaftet. Die Lösung aus traditionellen Bindungen im Zug der Entwicklung der modernen Gesellschaften individualisiert die Menschen, aber gibt ihnen auch die Freiheit, ihre Beziehungen selbst zu wählen. Wohlstand macht die Menschen gegenseitig weniger abhängig und schwächt damit enge Schicksalsgemeinschaften. Jedoch sind Menschen in prekärer Armut oft einsam, weil das alltägliche Ringen ums Überleben keine weitere Beziehungspflege zulässt. Das Wohlstandsgefälle zwischen Stadt und Land, zwischen Ländern und Kontinenten bringt mehr Diversität und Distanz zwischen den Menschen. Damit einhergehende Diskriminierung untergräbt Vertrauen und macht davon Betroffene einsam.

Franziska Domeisen von der ZHAW zeigte auf, welche gesundheitlichen Folgen Einsamkeit nach sich ziehen oder welche sie verstärken können. Dazu zählen Stresserkrankungen, Herzkreislauferkrankungen, Depressionen oder Demenzen. Pflegebedürftige Menschen wiederum sind gemäss Forschungserkenntnissen besonders von Einsamkeit bis zur sozialen Isolation betroffen. Ähnliches gilt aber auch für betreuende Angehörige chronisch kranker Menschen, die zu Hause leben. Anhand einiger Fallbeispiele erarbeitete die Referentin mit den Teilnehmenden mögliche Massnahmen zur Reduktion von Einsamkeit. Dazu zählen in erster Linie soziale Teilhabe, Unterstützung der Selbstpflege und Mobilität, Information und Aktivitäten, die z.B. Selbstwert und Selbstwirksamkeit unterstützen. Auch praktische Hilfen bei der digitalen Kommunikation mit Angehörigen können einen grossen Unterschied machen. Wichtig ist dabei, frühzeitig Anzeichen sich entwickelnder Einsamkeit zu erkennen, darauf zu reagieren, vertrauensvolle Beziehungen anzubieten und interprofessionell mit spezialisierten Fachleuten zusammenzuarbeiten. Am Schluss können aber nur die Betroffenen selbst ihre Einsamkeit aufgeben: „Da hilft es nicht, in ein Café zu gehen und aufzupassen, wie die andern lachen […]. Da hilft es nichts, mit sich nach Haus zu fliehn und die Gardinen hastig vorzuziehn“ (Erich Kästner).