Wenn man(n) Grenzen überschreitet

Die internationale Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» fand Mitte Dezember ihren Abschluss an der Fachhochschule St.Gallen. Bei der Podiumsdiskussion beschäftigten sich rund 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer für einen Abend mit Männlichkeitsbildern und Massnahmen zur Bekämpfung von Stalking.

Eingeladen waren der Slampoet und Autor Renato Kaiser, Christian Bächle, stellvertretender leitender Staatsanwalt in St.Gallen, Susanne Vincenz, Kantonsrätin und Juristin, Therapeut Karl Weilbach, die beiden Sozialarbeiterinnen Sema Karakus vom Frauenhaus St. Gallen und Denise Flunser von der Opferhilfe SG/AI/AR sowie Strafrechtsprofessor Christian Schwarzenegger. Die Veranstaltung wurde organisiert von Gabriella Schmid, Dozentin Fachbereich Soziale Arbeit und Institutsleiterin für Gender und Diversity IDG-FHO, und Meryem Oezdirek, wissenschaftliche Assistentin des Fachbereichs Soziale Arbeit.

Die internationale Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» beschäftigt sich in diesem Jahr mit dem Fokusthema «Männlichkeitsvorstellungen und Gewalt». Im Rahmen dieser Veranstaltung stellen wir uns die Fragen: Haben Männlichkeitsbilder einen direkten Einfluss auf die Gewaltbereitschaft von Männern? Wie schützen sich gewaltbetroffene Frauen? Wie werden ihre Täter zur Verantwortung gezogen und welche Massnahmen sind zur Bekämpfung von Stalking nötig?

Der verbreitete vorwissenschaftliche «boys will be boys»-Diskurs postuliert eine natürliche, das heisst auf biologische Ursachen zurückzuführende Jungenhaftigkeit, die dem traditionellen männlichen Geschlechtsstereotyp entspricht. Dies verbirgt, dass Geschlecht kein natürliches Schicksal ist, sondern die Vorstellungen von Männer- und Frauenrollen sind vielmehr gesellschaftlich konstruiert und werden tagtäglich von Menschen gemacht. Mann-Sein ist demnach ein erlerntes Konstrukt. Ein Mensch wird nicht dadurch zum Mann, dass er über die primären Geschlechtsmerkmale eines Mannes verfügt, sondern er muss die kulturell geltenden Männlichkeitsnormen erfüllen und sein Mann-Sein immer wieder bestätigen. Folglich existiert auch nicht die eine «natürliche» Männlichkeit, sondern eine Vielfalt von Männlichkeiten und damit Rollenmodelle, an denen Männer und Jungen sich orientieren können oder nicht.

Auf die Frage «Welche Merkmale hat denn ein gewalttätiger Mann?» sind sich die Podiumsgäste einig. Nämlich, dass sich keine einheitlichen Merkmale bei den Tätern feststellen lassen. Unabhängig der sozialen Herkunft können Männer gewalttätig werden. Diese Diversität wiederspiegelt sich ebenfalls im Beratungs- und Therapiekontext mit Tätern, berichtet Karl Weilbach. So könnten Männer, die ihre Frauen misshandeln, durchaus auch empathisch und liebevolle Väter sein.

 

Gesellschaftlich schädliche Männlichkeitsanforderungen wie beispielsweise bedingungslose Stärke, Kontrolle, Überlegenheit, Dominanz und Macht sind eng verknüpft mit Gewalt gegenüber sich, gegenüber Frau und Männer. Solche Männlichkeitsnormen fordern unter anderem Jungs und Männer häufig dazu auf, Kontrolle und Macht über ihre/n Partner/in auszuüben. Häusliche Gewalt und Stalking sind in der Schweiz gemäss Medienmitteilungen des Bundesrats nach wie vor grosse gesellschaftliche Probleme: 2017 sind über 17’000 Straftaten von häuslicher Gewalt registriert worden. 21 Menschen seien gestorben, die meisten davon Frauen.

Sema Karakus berichtet, dass Gewalt zu Beginn der Partnerschaft oft unter dem Deckmantel von Fürsorge und Eifersucht in Form von Kontrolle ausgeübt wird. Es besteht bei den betroffenen Frau oftmals eine hohe Hemmschwelle, eine Anzeige bei der Polizei zu erstatten. Oftmals befürchten die betroffenen Frauen, dass ihnen ihr Umfeld nicht glauben würde oder sich durch eine Anzeige die Probleme noch vergrössern. In vielen Fällen würden auch das Umfeld und der Täter Druck auf die betroffenen Frauen ausüben. So würde die Gewalt verharmlost und viele Frauen würden deswegen über Jahrzehnte physische, psychische und auch sexuelle Gewalt aushalten. Dies erschwere eine erfolgreiche Strafverfolgung, da die Frauen im Laufe der Gewalterfahrung mit niemandem darüber sprechen. Die Männer im Gegenzug hätten die Erfahrung gemacht, dass ihr Gewalthandeln keine Konsequenzen nach sich zieht und sie jahrelang mit der Gewalt durchkommen, berichtet Staatsanwalt Christian Bächle.

Stalking gilt ebenfalls als eine Form der Gewalt. Unter Stalking versteht man das willentliche und wiederholte Belästigen oder Verfolgen einer Person, welches als bedrohlich wahrgenommen werden kann. In den allermeisten Fällen sind sich Stalkingopfer und StalkingtäterInnen bekannt und/oder stehen in einer Beziehungskonstellation.

In der Schweiz existiert kein expliziter Straftatbestand gegen Stalking. Strafrechtlich kann gegen eine/n TäterIn erst dann vorgegangen werden, wenn im Zusammenhang mit Stalking auch strafrechtlich relevante Delikte wie Körperverletzung, Tätlichkeiten, Drohung, Ehrverletzungen usw. begangen werden. Es gibt daneben die Möglichkeit, auf zivilrechtlichem Weg gegen StalkerInnen vorzugehen und ein Annäherungs- und Kontaktverbot zu beantragen.

Christian Schwarzenegger berichtet, dass Stalking sehr unterschiedliche Ausprägungen und Aspekte haben kann. Die anfänglich vermeintlich wohlwollenden Handlungen der Stalkerin werden oft von den Betroffenen und deren Umfeld eher als unangenehmes Eindringen in die Privatsphäre, denn als gefährliche Drohung wahrgenommen. Dies erklärt teilweise die späte Wahrnehmung des Phänomens, durch die Betroffenen aber auch durch die Strafverfolgung. Teilweise würde noch nicht die Schwelle der Illegalität überschritten werden. Täter oder Täterinnen suchen dabei gezielt die physische Nähe des Opfers, ohne dieses erkennbar zu bedrängen: Telefonanrufe zu jeder Tages- und Nachtzeit, permanenter Aufenthalt in der Nähe, Kontaktaufnahme über Drittpersonen, unerwünschte Geschenke, unerwünschte Kommunikation durch hohe Anzahl an E-Mails oder WhatsApp-Nachrichten usw. Dennoch kann es bei den Betroffenen, in dieser Dichte, grosse Ängste und psychische Belastungen hervorrufen und sozialen Rückzug zur Folge haben.

Die anfänglich vermeintlich wohlwollenden Handlungen der Stalkerin bzw. des Stalkers können sich schnell verändern. In manchen Fällen eskaliert das Verhalten bis hin zur physischen und sexuellen Gewalt oder Tötungsdelikten.

Es stellt sich nun die Frage, ob ein eigener Straftatbestand diesbezüglich für die Betroffenen hilfreich wäre und ihre Situation verbessern könnte.

In Deutschland ist Stalking beziehungsweise der Straftatbestand der «Nachstellung» vor einigen Jahren eingeführt worden. Die Erfahrungen aus Deutschland hätten gezeigt, dass dies die Strafverfolgung erschwere, denn es sei schwierig, das Phänomen genügend differenziert zu formulieren. In der Praxis folglich bestünde das Risiko von Abgrenzungsproblemen zu anderen Strafen, führt Christian Schwarzenegger aus.

Eine wirkungsvollere Gesetzgebung sei weiterhin anzustreben, hält hingegen Denise Flunser fest. Wenn die unzähligen Handlungen der TäterInnen einzeln betrachtet werden, sei oft die Grenze der Illegalität nicht erreicht. So sei zum Beispiel die Einführung von Schutzmassnahmen wie Wegweisung und Rückkehrverbot im Jahr 2003 sei für die Betroffenen und auch die Opferhilfestellen sehr bedeutsam gewesen. Die Opfer von Gewalt würden seitens der Behörden wie der Polizei und der Justiz seither viel ernster genommen.

Zur besseren Überprüfung dieser Schutzmassnahmen hat der Bundesrat im Oktober 2017 die Botschaft zur Änderung im Zivil- und Strafrecht verabschiedet, womit unter anderem auch der Aufenthaltsort von potenziell gewaltausübenden Personen fortlaufend anhand einer Fussfessel ermittelt und aufgezeichnet werden kann.

Daneben können Justizbehörden über die Wegweisung und das Rückkehrverbot hinaus Massnahmen wie soziale Lernprogramme oder eine Gewaltberatung anordnen, was leider noch viel zu wenig getan wird. Die Erfahrungen von Karl Weilbach zeigen, dass besonders diese Massnahmen eine Wirkung haben.

Gabriella Schmid hält zum Abschluss der Diskussion fest, dass der Kanton St.Gallen 2003 Pionier bei der Einführung der Schutzmassnahmen war, dass aber bis heute noch wesentliche Lücken für Betroffene bestehen. So gebe es noch zahlreiche Hürden für jene Männer, die freiwillig Hilfe durch Beratung oder Therapie in Anspruch nehmen wollen, wie zum Beispiel die Kostenbeteiligung seitens der Klienten, ein viel zu geringes Angebot und hohe Wartezeiten. Die Förderung, Verankerung und der Ausbau von Anti-Gewalt-Beratungsstellen und Lernprogrammen seien ein wichtiger Schritt hin zu weniger Gewalt, sind sich die Podiumsgäste einig. Dies dürfe jedoch nicht auf Kosten der Opferhilfestellen geschehen, sondern müsse im Rahmen der kantonalen und kommunalen Regelfinanzierungen stattfinden, ergänzt Denise Flunser. Kantonsrätin Susanne Vincenz appelliert, dass daneben auch präventiv etwas unternommen werden müsse. Die Vielfalt des Mannes sei gross und es sei an der Zeit, dass die alten, gewaltbezogenen Vorstellungen von Männlichkeiten durch neue Männlichkeitsvorstellungen ersetzt würden. Dies sollte bereits in der Bildung und während des Aufwachsens von Jungen und Männern beginnen. Hierzu seien jedoch Ressourcen im Kanton St.Gallen nötig.

 

Das Podium ist der Abschluss der internationalen Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» und wird in Zusammenarbeit mit dem Frauenhaus St.Gallen, der Opferhilfe St.Gallen und der kantonalen Gleichstellungs- und Integrationsförderung organisiert.

Text: Meryem Oezdirek
Fotos: Lea Müller

Lesen Sie mehr zum Podium im Bericht des St.Galler Tagblatts. Der Kanton St.Gallen will Stalking ins Polizeigesetz aufnehmen und eine Koordinationsgruppe für Hochrisikofälle schaffen. Dieses Thema hat Tagblatt-Redaktorin Katharina Brenner in einem weiteren Artikel beleuchtet.