«Dem Dorfplatz auf der Spur»

Eine interdisziplinäre Forschungsinitiative «Raum und soziale Entwicklung» der FHS St.Gallen ist dem Dorfplatz auf der Spur. Forschende aus verschiedenen Fachrichtungen nähern sich gemeinsam den Fragen an, was einen «guten» öffentlichen Raum auszeichnet, inwiefern sich dieser an konkreten Kriterien festmachen lässt und wie ein Ergebnis in die Praxis übersetzt werden kann. Thomas Bucher erhielt im Rahmen seines Praktikums am IFSAR-FHS die Möglichkeit, den Forschenden bei ihrer Arbeit über die Schultern zu schauen und in die Thematik mit einzutauchen. Lesen Sie nachfolgend seinen Bericht:

«Piazzas sind Flächen in Dörfern oder Städten, frei von Häusern und ähnlichen Dingen und von Hindernissen. Ihre Bestimmung ist es, Platz zu schaffen oder die Gelegenheit, dass Menschen sich versammeln können. Also darf man annehmen, dass das Studium der Piazzas Auskunft über das Leben der Menschen in dieser Welt geben kann.» Berchorius (o.D. zitiert nach Nova, 2010, S. 1)

von Thomas Bucher, begleitet von Laura Fischer

Öffentliche Plätze wie die italienische Piazza, auf der – wie der Mönch Petrus Berchorius schon im 14. Jahrhundert beschrieben hatte – «Leben stattfinden kann» haben in der heutigen Zeit nach wie vor einen hohen Stellenwert. Wie im Mittelalter steht der Dorfplatz der Gegenwart symbolisch für einen Ort des öffentlichen Lebens. Hier finden Begegnungen statt, es werden Feste gefeiert, Versammlungen abgehalten und Behördengänge erledigt.

Doch wie ein Blick in die Gemeinden rund um den Bodensee exemplarisch zeigt, wurde der klassische Dorfplatz in den letzten 100 Jahren vielerorts durch Entwicklungen wie die rasante (Auto-)Mobilisierung von Verkehrskreiseln und Strassenkreuzungen verdrängt. Mit den Dorfplätzen verschwindet auch das Leben aus der Öffentlichkeit und zieht sich in die Sphäre des Privaten zurück. Anonymität und Vereinzelung sind Folgen davon, die sowohl die Bevölkerung als auch die Gemeindeverwaltung zu spüren bekommen. Als Beispiel steigt die Nachfrage nach öffentlichen Betreuungsangeboten für pflegebedürftige Menschen und für Kinder, weil soziale Netzwerke weniger oder nicht mehr greifen. Schliesslich wird die städtebauliche Entwicklung mehr und mehr zu einem sozialen Problem.

Als Antwort auf diese Problematik lässt sich ebenfalls beobachten, wie öffentliche Begegnungsräume gezielt von Gemeinden, Raumplanenden und Architekten gefördert und (wieder-)belebt werden. Öffentlich und private Bauherren und Investoren scheinen Wert darauf zu legen, den öffentlichen Raum als Lebensort für den Menschen mitzudenken und vermehrt Plätze in Form einer Um- oder Neugestaltung zu schaffen.

Die Analyse dieser Entwicklung hat sich die interdisziplinäre Forschungsinitiative «Raum und soziale Entwicklung» mit der Zusammenarbeit des IFSAR-FHS, des IfA- FHS und des OZG-FHS zum Auftrag gemacht. Neben der Sprecherin Katrin Albrecht (Architektur) und dem Sprecher Christian Reutlinger (Sozialgeographie und Erziehungswissenschaften) sind sechs Forschende aus verschiedenen Fachrichtungen dem Dorfplatz auf der Spur: Die Architektinnen Eva Lingg und Chiara Friedl, Raumplaner Raimund Kemper, Stadtsoziologin Laura Fischer, Politikwissenschaftler Lineo Devecchi und Kulturwissenschaftlerin Nicola Hilti.   Konkret nähern sie sich gemeinsam den Fragen an, was einen «guten» öffentlichen Raum auszeichnet, inwiefern sich dieser an konkreten Kriterien festmachen lässt und wie ein Ergebnis in die Praxis übersetzt werden kann.

Der Blick von aussen

Im Rahmen meines Praktikums am IFSAR-FHS erhielt ich die Möglichkeit, den Forschenden bei ihrer Arbeit über die Schultern zu schauen und in die Thematik mit einzutauchen. Mein Auftrag war es, den Arbeitsprozess zu begleiten und mit einem Blick von aussen zu reflektieren. Dieser Beitrag beruht auf meiner Einführung in das Thema von Laura Fischer, meinem Selbststudium aller Dokumente der Initiative, Gesprächen mit den Forschenden und der Teilnahme am zweiten Forschungsworkshop.

Der Weg ins Feld

Als Einstieg in den sechsmonatigen Forschungsprozess sammelten die Forschenden am ersten Workshop im November 2019, ausgehend von ihren individuellen Erfahrungen und fachlichen Hintergründen, Schlüsselwörter und Assoziationen zum Thema «Dorfleben». Das Ergebnis war eine bunte Post-it Wolke (siehe Bild). Gemeinsam wurde ein Ordnungsraster für die Wolke entschieden und die einzelnen Begriffe sortiert. Während auf der x-Achse die drei «Zeitlichkeiten» Mythos, Gegenwart und Zukunft stehen, wurden die Post-it auf der y-Achse in die drei Dimensionen Städtebau, Sozialraum und «andere» eingeordnet. Die Forschenden waren sich einig, dass genau der doppelte Blick auf das Städtebauliche und Soziale für die Analyse von Dorfleben zentral sei.

Ausgehend von dieser Wolke wurde überlegt, was die Qualität von öffentlichem Dorfleben auszeichnet, wo Dorfleben überhaupt stattfindet und was diese Orte gemeinsam haben. Schnell wurde klar, dass es hilfreich und zielführend ist, diese Diskussion an konkreten Fallbeispielen festzumachen. Darum interessierten sich die Forschenden für historische Dorfplätze, Ortskerne oder neue Quartierszentren in kleineren bis mittelgrosse Gemeinden im Raum Bodensee, an denen sich eine spannende Entwicklung aufzeigen lässt.

Vor dem Hintergrund des ersten Workshops machten sich die Forschenden in Tandems auf den Weg ins Feld. Durch Ortsbegehungen, direkte Befragungen von Passanten oder Gesprächen mit Bewohnenden und Schlüsselpersonen entstand nicht nur eine grosse Sammlung an Material durch die interdisziplinären Perspektiven, die unterschiedlichen Interpretationen und Auswertungen entstand auch ein breites Spektrum an Merkmalen und Thesen, was einen guten Dorfplatz ausmacht.

Vor die Kamera

Als Auftakt für den zweiten Workshop im März 2020 erhielten die drei Forschungstandems den Auftrag, ihre Ergebnisse in Form eines einminütigen Beitrags für eine inszenierte Pressekonferenz vor laufender Kamera zu präsentieren. Das Resultat waren teils zugespitzte, teils provokative «Pressemeldungen». Versetzt in die Rolle von Journalisten und Journalistinnen wurden die knappen Statements verfolgt und im Anschluss kritisch hinterfragt. Mit den gesammelten Fragen machten sich die Fachexperten und Expertinnen an die intensive Arbeit, ihren Beitrag anhand ihrer Forschungserfahrung, Fallbeispielen und konkreten Beobachtungen zu erklären und begründen.

Als nächstes fand im Plenum eine Diskussion statt, mit der sich die Forschenden einem einheitlichen Verständnis zwischen den Disziplinen über den «guten Dorfplatz» Schritt für Schritt annäherten. Zum Beispiel ging es darum, wie ein Dorfplatz in den Köpfen der Bevölkerung verankert sein soll oder welche Nutzungen ein guter Dorfplatz ermöglichen soll, um als solchen wahrgenommen zu werden.

Zurück ins Feld

Neben den gewonnenen Erkenntnissen wurden auch Wissenslücken identifiziert. Diese stellen die Weichen für einen zweiten Gang ins Feld, bei dem vor allem die Frage nach dem Prozess in den Blick genommen werden soll: Wie kommt ein guter Dorfplatz zustanden? Entlang dieser Frage untersuchen die Forschenden frei gewählte Plätze im Feld, aus ihrer jeweiligen sozialwissenschaftlichen, architektonisch-, städtebaulichen Perspektive.

Die gemeinsamen Reflexionsprozesse, die erprobten Workshop-Formate wie auch die inhaltlichen Erkenntnisse sollen in einem dritten Schritt mit externen Fachleuten weitergeführt werden. Zusammen mit Akteuren der Planungspraxis sollen Hinweise und Methoden hinterfragt, diskutiert und (weiter-)entwickelt werden, um einen «guten» Dorfplatz zu planen, bauen oder evaluieren. Ein Dorfplatz, auf dem Menschen sich wieder versammeln können und der Auskunft über das Leben der Menschen in dieser Welt geben kann.

Fazit meiner Aussenperspektive

Als Praktikant konnte ich Teil einer für mich unkonventionelle Vorgehensweise sein: Der Einstieg in das Thema begann über individuelle Vorstellungen und freie Assoziationen, gefolgt von absoluten, zugespitzten Statements bis hin zu wissenschaftlich fundierten Argumentationen. Besonders fielen mir die Unterschiede in der Sprache, der Perspektive und Herangehensweise der verschiedenen Disziplinen auf. Ob das öffentliche Leben auf einem Platz unter dem Fokus der Funktionen, der materiellen Beschaffenheit oder der Bedeutung für die Bevölkerung betrachtet wird, zeigt die breite des Spektrums, welches von den Forschenden abgedeckt wird. Trotz dieser Breite konnte ich beobachten, wie durch die Diskussion eine Annäherung an gemeinsame Thesen und Rückschlüsse erarbeitet werden konnten und wie eine zukunftsorientierte Sozialraumforschung einer Interdisziplinarität bedarf.