Die unsichtbare Seite der Stadt

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An der Ostschweizer Sozialraumtagung / Fachtagung der Netzwerke GWA wurden in St.Gallen Orte, Dinge und Organisationen beleuchtet, die sonst eher im Hintergrund wirken. Damit eine Stadt lebt, braucht es Reibung, Platz für Geheimnisse sowie sichtbare und unsichtbare Räume. Rund 90 Teilnehmerinnen und Teilnehmer besuchten diese vermeintlichen Nebenschauplätze.

Was wäre, wenn man plötzlich von heute auf morgen erblindet? Vor dem Gebäude der Obvita in St.Gallen, der Organisation des Ostschweizerischen Blindenfürsorgevereins, verteilt Christoph Popp, Gesamtleiter Wohnen, Dunkelbrillen. Dann geht es in Einerkolonnen los, die Hand auf die Schulter der Person vor einem gelegt. Dass man sich im einem überdachten Durchgang befindet, merkt man etwa daran, dass der Wind auf einmal nicht mehr weht. Und dass man sich dem Haupteingang nähert, erkennt man daran, dass sich eine grosse Schiebetür öffnet. Sie klingt ausserordentlich laut. Auf diese neue Welt und Wahrnehmung einlassen musste sich Virgil Desax, blinder Mitarbeiter bei der Obvita, im Alter von 22 Jahren. Nach einer Tumorentfernung aus seinem Kopf war er blind erwacht. Heute sagt er: «Es ist eine gute Zeit, um blind zu sein. Es gibt so viele Hilfsmittel wie nie zuvor.» Den Teilnehmerinnen und Teilnehmern stellt er seine Lieblings-Apps mit Licht-, Farb- und Texterkennung vor.

Für das städtische Leben unerlässlich
Der Workshop bei der Obvita war Teil der Ostschweizer Sozialraumtagung, die das Kompetenzzentrum Soziale Räume der FHS St.Gallen in diesem Jahr zusammen mit dem Netzwerk Gemeinwesenarbeit Deutschschweiz organisiert hat. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer betrachteten und erkundeten die Stadt St.Gallen unter dem Aspekt «Das Sichtbare und das Unsichtbare». Aufgeteilt in zehn Gruppen begaben sie sich an verschiedene Orte und zu verschiedenen Organisationen, die für das städtische Leben unerlässlich sind, aber oft im Hintergrund wirken. «Es geht heute einerseits darum, Dinge sichtbar zu machen, die man sonst nicht sieht oder die man nur vage kennt», sagte Projektleiter und FHS-Dozent Dani Fels. «Andererseits besuchen wir Orte, die bewusst im Hintergrund bleiben.»

Ein solcher Ort ist das Solidaritätshaus in St.Gallen. Es handelt sich dabei um ein offenes Haus und um einen Rückzugsort für Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten sowie Schweizerinnen und Schweizer. Asylbewerber führten die Workshop-Teilnehmenden durch die Aufenthaltsräume, das Lernzimmer, den Spielraum, die Büros und die Küche, wo im Ämtlidienst täglich für bis zu 60 Personen gekocht wird. In der anschliessenden Diskussion erfuhren die Teilnehmenden wie der Alltag der oftmals abgewiesenen Asylbewerber und Asylbewerberinnen durch das Solidaritätshaus erleichtert wird. «Das Unsichtbare, das schwierige Leben dieser Menschen, sehen wir normalerweise nicht», sagte Ursula Surber vom Solidaritätshaus.

Einige Teilnehmende besuchten die Herberge zur Heimat, die Menschen in schwierigen Lebenssituationen eine kostengünstige Unterkunft anbietet. Andere hatten sich für die Workshops bei der Pro Senectute oder bei der Fachstelle für aufsuchende Sozialarbeit der Stiftung Suchthilfe angemeldet. In den Workshops IG Brache Lachen und Eisenbahner-Baugenossenschaft im Schoren stand im Vordergrund, wie die heutige Quartierbevölkerung Freiraum nutzt oder wie vor über 100 Jahren versucht wurde, günstigen Wohnungsbau auf genossenschaftlicher Basis zu verwirklichen.

Was sich im Verborgenen abspielt
In einen unsichtbaren Raum – in die Welt von Ultragruppierungen – führte der Workshop der Fanarbeit St.Gallen. Zusammen mit den Fanarbeitern «entwarfen» die Teilnehmenden zunächst den sichtbaren Fussballfan, der beispielsweise am Schal erkennbar ist. Doch wie äussern sich zentrale Aspekte wie Maskulinität, triumphaler Erfolg, Solidarität, Protest und Rebellion? Und was spielt sich alles im Verborgenen ab? Unsichtbare Räume sind beispielsweise der Extrazug und das Fanlokal von innen, die Kurve im Stadion sowie der geheime Ort, an dem die Fans ihre Choreografien üben. Wichtiger als der Cupsieg sei für die Ultragruppierungen die Choreografie, sagte Fanarbeiter Thomas Weber. Jede Fackel, jeder Schal, jedes Banner, die Gesänge, die Trommeln alles sei im Stadion bewusst platziert, um damit die gegnerischen Fans zu übertrumpfen.

Auch im Nachtleben ist vor allem eine Seite sichtbar. Es ist jene der Partys, Konzerte und der Menschen, die unterwegs sind. Dadurch entstehen Probleme wie Lärmklagen. Im Workshop des Vereins Nacht Gallen, der Interessengemeinschaft von Gastronomie- und Kulturbetrieben sowie Veranstaltern, gestalteten die Teilnehmenden daher einen Überbauungsplan für eine zentralliegende Industriebrache. Es zeigte sich schnell, wie schwierig es ist, ein Quartier mit Platz und Raum für Junge, Senioren, Familien, Arme, Reiche, Bars und Clubs zu entwerfen und darauf zu achten, dass möglichst wenige Reibungspunkte entstehen.

Wie man ein Quartier optimal nutzen kann, darüber diskutierten die Teilnehmenden auch am Workshop des Tisch hinter den Gleisen. Es handelt sich dabei um eine Gruppe junger St.Gallerinnen und St.Galler, die sich regelmässig trifft, um öffentlich über die Zukunft des Quartiers Bahnhof Nord diskutieren und damit Raum für einen partizipativen Dialog schaffen.

Das Recht auf Sicht- und Unsichtbarkeit
Zum Abschluss der Tagung trafen sich alle Teilnehmenden in der Jugendbeiz Talhof. In seinem Referat mit dem Titel «Eyes wide shut» sprach Christian Reutlinger, Leiter des Instituts für Soziale Arbeit an der FHS, über die Herausforderung, Unsichtbares sichtbar zu machen. Er nannte aktuelle und historische Beispiele und Methoden, mit denen es der Sozialen Arbeit gelang, im Schatten Stehende(s) ins Licht zu führen. Er betonte das Recht der Individuen sowohl auf Sichtbarkeit als auch auf Unsichtbarkeit und verwies auf die Möglichkeiten der Gemeinwesen- und Sozialraumarbeit, die Grenzen zwischen Sicht- und Unsichtbarkeit auszuloten.

Text: Nina Rudnicki; Bilder: Claudio Baeggli

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Das St.Galler Tagblatt war beim Workshop «Tisch hinter den Gleisen» dabei. Hier geht’s zum Bericht.