Spitex: Weniger Bürokratie, mehr Zeit für die Betreuung

Die ambulante Pflege ist in Bewegung. Diskutiert werden neue Ideen, wie die Dienstleistung effizienter organisiert werden kann. Nicole Lieberherr und Viktoria Schachinger haben mit ihrem TEP-Projekt im Masterstudiengang Soziale Arbeit an der FHS St.Gallen untersucht, wie das niederländische Buurtzorg-Modell auf eine Spitex-Organisation in der Stadt St.Gallen übertragen werden kann.

Sie hatten sofort Feuer gefangen. «Bereits während des Gesprächs mit Cécile Schefer von der Geschäftsleitung der Spitex Centrum-Stadt Spitex spürten wir: Das ist unser Thema.» Mit «ihrem» Thema meinen Nicole Lieberherr und Viktoria Schachinger das Interesse der Centrum-Stadt Spitex an der Modernisierung der ambulanten Pflege, insbesondere am niederländischen Buurtzorg-Modell. Daraus entstand der Projektauftrag für das TEP-Projekt an die beiden Masterstudentinnen innerhalb des Masterstudiengangs Soziale Arbeit an der FHS St.Gallen.

Nicole Lieberherr und Viktoria Schachinger sollten untersuchen, inwiefern sich das «innovative und erfolgreiche» Buurtzorg-Modell auf die Centrum-Stadt Spitex übertragen lässt. Ziel war es, Möglichkeiten zur Anwendung des Modells aufzuzeigen und eine Grundlage für allfällige Entwicklungsprozesse innerhalb der Organisation zu bilden. «Uns war wichtig, dass wir unsere Arbeit nicht für die Schublade schreiben», sagt Viktoria Schachinger.

Autonome Teams, flache Hierarchie
«Buurtzorg» basiert auf der Idee des Niederländers Jos de Blok, die Pflege im ambulanten Bereich anders zu organisieren. Er wollte die vom aufgeblähten Verwaltungsapparat blockierten Ressourcen wieder freisetzen, den Pflegefachpersonen die Verantwortung für ihre Tätigkeit zurückgeben und das Klientel wieder in den Mittelpunkt stellen. «Die Administration wird von einem zentralen Dienst erledigt», sagt Nicole Lieberherr. «Die Pflegefachkräfte sind damit entlastet und können sich voll auf ihre Arbeit und die zu Betreuenden konzentrieren.» Gearbeitet wird in autonomen Teams mit flachen Hierarchien. Nach 10 Jahren umfasst das Modell heute in den Niederlanden rund 10‘000 Mitarbeitende, die in selbstorganisierten Teams von 4 bis 12 Personen arbeiten und jährlich 70‘000 Patienten betreuen.

Dass das Thema der lernenden Organisation und lernenden, autonomen Teams im Trend liegt, zeigt auch der privatwirtschaftliche Anbieter von Organisationsberatung, Xpreneurs, auf. Er versteht sich dabei als «Laboratorium für neue Formen der Arbeit und für die dazu nötigen Formen von Organisation». Im Zentrum der Beratungstätigkeit steht Holacracy, ein von Brian J. Robertson gegründetes «revolutionäres Management-System für eine volatile Welt». Unternehmen, die nach Holacracy arbeiten, organisieren sich nicht mehr anhand hierarchischer Führungsstruktur, sondern über Prozesse in selbstgesteuerten Teams, wie Viktoria Schachinger sagt.

Auch politisch brisant
Für ihre Studie haben die beiden Masterstudentinnen die Auftraggeberin sowie weitere Fachpersonen befragt, die über konkrete Kenntnisse der Modelle Buurtzorg und Holacracy verfügten. «Es stellte sich heraus, dass das Buurtzorg-Modell unter Berücksichtigung der nötigen Anpassungen an die schweizerischen Gegebenheiten auf die Centrum-Stadt Spitex übertragen werden kann», so das Fazit der beiden Frauen, die nebst ihrem Masterstudium als Wissenschaftliche Assistentinnen im Fachbereich Soziale Arbeit an der FHS tätig sind. Selbstorganisation sei im Rahmen der Spitex gut möglich, da die Teams der Centrum-Stadt Spitex bereits heute sehr nahe am System Holacracy arbeiteten. «Mit einem Pilotprojekt könnten in St.Gallen erste Erfahrungen mit dem neuen System gemacht werden.»

In ihrer Projektarbeit haben Nicole Lieberherr und Viktoria Schachinger ebenfalls festgehalten, wie dies für die Centrum-Stadt Spitex umgesetzt werden könnte. «Organisatorisch gäbe es die Zentralen Dienste, die sich als Service Center um Administration, EDV, Logistik, Einkauf, Personalwesen und Kundendienst kümmern», sagen sie. «Anfragen gelangten zu diesen Diensten und würden dann an die entsprechenden Teams und andere Institutionen verwiesen. Die rund 30 Mitarbeitenden teilten sich in 3 bis 4 Teams auf, die interdisziplinär zusammengesetzt wären, sich selbst steuern und entwickeln würden.» Und sie gehen gar einen Schritt weiter. «Nach denselben Holacracy-Prinzipien könnten auch alle vier bestehenden gemeinnützigen Spitex-Organisationen in der Stadt St.Gallen als Einheitsorganisation strukturiert werden», sagt Nicole Lieberherr. Ein Thema, das die St.Galler Politik seit Jahren beschäftigt. Erst vor kurzem hat das Stadtparlament ein Postulat verabschiedet, in dem es um eine Einheits-Spitex für die Stadt St.Gallen ging.

Das Projekt überzeugte
Für Cécile Schefer, Geschäftsführerin der Centrum-­Stadt Spitex, hat sich die Zusammenarbeit sehr gelohnt. «Über ‹Buurtzorg/Holacracy› zu schreiben war eine grosse Herausforderung. Nicole Lieberherr und Viktoria Schachinger gelang es aufgrund ihres grossen Engagements und Fachwissens, die Aufgabe mit Erfolg zu meistern», sagt sie. «Dank ihrer durchdachten Recherche war eine vertiefte Betrachtungsweise möglich. Damit ermöglichen sie es der Centrum-Stadt Spitex, auf aktuellen Ergebnissen aufbauen zu können.»

Überrascht hat Cécile Schefer die «sehr klare und eindrückliche Projekt-Präsentation» an der FHS. Dies sei aber umso wichtiger gewesen, da Vertretungen der Stadt, des eigenen Vorstandes und einer anderen Spitex-Organisation sowie die eigene Masterstudentin daran teilgenommen hätten. Die Projektarbeit überzeugte. «Gut möglich, dass dadurch die Grundlage geschaffen wurde, bei der Bildung einer Spitex-Einheitsorganisation in der Stadt St.Gallen diese neue soziale Methodik als Alternative zu bestehenden Organisationsformen in Betracht zu ziehen.»

Fast ein halbes Jahr haben Nicole Lieberherr und Viktoria Schachinger an ihrem TEP-Projekt gearbeitet. Seit Januar ist es fertig. Nicole Lieberherr hat das Thema aber nicht losgelassen. Für ihre Master-Thesis untersucht sie, wie die Stadt eine «Anlauf- und Informationsstelle Alter» aufbauen könnte. Viktoria Schachinger, die sich selber als Theoretikerin bezeichnet, beschäftigt sich für ihre Master-Thesis mit Professionsentwicklung.

Nicole Lieberherr ist Masterstudentin und wissenschaftliche Assistentin am Institut für Soziale Arbeit IFSA-FHS.
Viktoria Schachinger ist Masterstudentin und wissenschaftliche Assistentin in der Lehre des Fachbereichs Soziale Arbeit.

Text: Marion Loher
Foto: Donato Caspari