Vom Mut, unbequeme Fragen zu stellen

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Auf einer Reise in die Ukraine haben 14 Studentinnen und Studenten die Möglichkeiten und Grenzen der Sozialen Arbeit im Spannungsfeld von Frieden und Unfrieden kennengelernt. Die Bachelor-Absolventin Eva Joos erzählt im Hochschulmagazin substanz, was sie am meisten beeindruckt und überrascht hat und verrät, dass sie im Austausch mit ukrainischen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern von der «Schweizer Arroganz» erwischt wurde. Begleitet wurde die Studierendengruppe von Walther Specht – einem Grenzgänger, der die Mobile Jugendarbeit in Deutschland mitbegründet hat und der Ausgangspunkt in einem neuen Buchprojekt von Stephan Schlenker und Christian Reutlinger ist.

Welche «Grenzgänge» haben sie und ihre Mitstudierenden auf der Studienreise erlebt?

Eva Joos: Die Studienreise in die Ukraine war für mich sehr eindrücklich. Es war extrem kalt, man konnte die Schrift nicht lesen, verstand kein Wort der Sprache und viele Ukrainerinnen und Ukrainer (insbesondere Taxifahrer) sprachen kein oder kaum Englisch. Wir waren auf eine Art ungeheuer fremd. Auf die andere Art fühlte ich mich in der Ukraine aber immer wohl und sicher und erlebte die Ukrainerinnen und Ukrainer als sehr gastfreundlich und herzlich. Und auch mit der Kommunikation hat es immer irgendwie funktioniert. Schwierig war für mich die Vorstellung, mich in einem Land zu befinden, das unter Krieg leidet und von Sorgen, Ängsten und Nöten zu hören – immer im Wissen, dass wir danach in die sichere, stabile Schweiz zurückkehren.

Wie hat sich der Grenzkonflikt zwischen der Ukraine und der russischen Föderation bemerkbar gemacht?

Eva Joos: Die Aussagen der Leute bezüglich Russland zeigte eine erschreckende Zerrissenheit in der Bevölkerung: Manche berichteten sehr differenziert und informiert vom Konflikt und vom Krieg mit Russland, manche trauerten über die Auseinandersetzung mit dem einstigen Bruder Russland und von anderen hörte man auch ungefilterten Rassismus gegen die russische Bevölkerung. Bei den jungen Studierenden bemerkten wir oft eine Orientierung am Westen und den Wunsch, einmal in die EU einzutreten. Bei anderen Personen hingegen war eine nostalgische Sehnsucht nach früher und der Sowjetunion spürbar.

Was hat Sie in der Ukraine beeindruckt, überrascht?

Eva Joos: Die sowjetische Bauweise und Architektur in Kiew beeindruckte mich von Beginn an, mit den riesigen Plattenbauten, an denen jeder selbst etwas an- und weiterzubauen scheint – worin sich auch die Armut der Bevölkerung wiederspielt – und daneben die prunkvollen, vergoldeten, repräsentativen Bauten der Kirchen und Monumente. Überrascht hat mich das bereits angesprochene hohe subjektive Sicherheitsgefühl in Kiew und in Tschernihiw. Zugegebenermassen war ich auch etwas überrascht vom Ausbildungsniveau, der Professionalität und der hohen Differenziertheit der Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die wir kennenlernten. Da hat mich wohl die «Schweizer Arroganz» – zu glauben wir seien in solchen Belangen fortschrittlicher als der Osten – erwischt.

Wo liegen die Grenzen der Sozialen Arbeit in der Ukraine – gerade im Vergleich zu der Schweiz oder unserem Professionsverständnis?

Eva Joos: Wie uns berichtet wurde, liegen die Grenzen der Sozialen Arbeit in der Ukraine immer wieder bei den finanziellen Mitteln. Insbesondere im Moment mit den militärischen Auseinandersetzungen sei noch mehr Geld aus der Sozialen Arbeit abgezogen und für andere Zwecke eingesetzt worden. Gemäss den Erzählungen vor Ort ist die Soziale Arbeit in der Ukraine derzeit sehr gefordert mit den IPDs (Internally Displaced Persons, zu Deutsch Binnenflüchtlinge). Gewisse Anliegen und Probleme sind für uns neu und anders, viele aber auch durchaus vergleichbar mit unseren. So kennen wir in der Schweiz keine Binnenflüchtlinge, die Flüchtlingsthematik ist uns aber sehr wohl bekannt und bei den Diskussionen liessen sich durchaus einige Parallelen ziehen. Das Professionsverständnis der Sozialarbeitenden erschien mir sehr vergleichbar mit dem in der Schweiz. Die Soziale Arbeit in der Ukraine hat – meinem kurzen Einblick nach – ein sehr hohes, differenziertes Professionsverständnis. Ebenso erschienen mir bei unserem Besuch in der Universitätsstadt Tschernihiw das Ausbildungsniveau und das Engagement der Studierenden sehr hoch.

Die Studienreise wurde von einem Dozierenden-Team begleitet, darunter auch der Lehrbeauftragte Walther Specht. Wie haben Sie ihn erlebt? Was konnten Sie «mitnehmen»?

Eva Joos: Ich denke, ich kann in der Wir-Form sprechen, wenn ich sage, dass wir Walther Specht als eine sehr eindrückliche Person erlebt haben. Trotz seines Alters und obwohl er während unserer Reise in die Ukraine gesundheitliche Probleme hatte, zeigt er ein enormes Engagement und unermüdliche Wissbegier. Ich denke, was ich am meisten von ihm mitgenommen habe, ist seine wiederholte Aufforderung an uns, mutig zu sein und auch unbequeme Fragen zu stellen, nachzufragen und uns nicht mit oberflächlichen Antworten zufrieden zu geben. Diesen Mut hat er uns in Kiew laufend vorgelebt. Sehr interessant waren auch seine wiederholten Nachfragen, nach der – wie er es nannte –«Dirty Social Work» und wer sich darum kümmere beziehungsweise sich den Drogensüchtigen, Kriminellen und so weiter annehme.

Eva Joos hat im Frühjahr 2017 den Bachelor-Abschluss in Sozialer Arbeit an der FHS St.Gallen gemacht. Zurzeit arbeitet sie auf der Jugendanwaltschaft des Kantons St.Gallen.

Interview: Lea Müller
Fotos: Niklaus Keller; weitere Bilder im Flickr-Album