Hauptsache Arbeit?

In der aktuellen Sozialhilfedebatte wird das einfache Schema arbeitswillig = unterstützungswürdig, nicht arbeitswillig = nicht unterstützungswürdig oft absolut gesetzt. Die Einpassung des Individuums nach dem Grundsatz „Hauptsache Arbeit!“ soll das Problem der Exklusion aus dem Arbeitsmarkt lösen. Die Lösung eines sozialen Problems durch die Korrektur der Individuen bleibt allerdings eine noch nie eingelöste Utopie.

Sozialhilfe ist wieder zum grossen Medienthema geworden. Heftig diskutiert wird, dass es zu wenig gelingt, Menschen mit ungenügendem Einkommen in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Allerdings fokussiert die Diskussion in Politik und Medien nicht auf den für immer breitere Gruppen von Menschen nicht (mehr) funktionierenden Arbeitsmarkt und entsprechende Lösungsmöglichkeiten – sondern auf diejenigen Bezügerinnen und Bezüger, die „nicht arbeitswillig“ sind. Es könnte der Eindruck entstehen, deren fehlende Arbeitsmoral sei das Hauptproblem in der Sozialhilfe. Und die Probleme seien folglich gelöst, wenn man diese Arbeitsmoral durch Alternativlosigkeit herstellt wird: Arbeiten oder Ausschluss. Korrektur der Individuen zur Lösung eines sozialen Problems ist eine alte Utopie, die allerdings nie eingelöst werden konnte. Es ist deshalb kaum zielführend, sie weiterhin als Heilmittel zu propagieren. Sonst könnte man ebenso auf die Idee kommen, alle Unternehmen zu bestrafen, die nicht willig sind, eine angemessene Quote von Sozialhilfebezügerinnen und -bezügern zu beschäftigen, egal welche Voraussetzungen diese mitbringen. Eine Gedanke, der wohl sofort als absurd zurückgewiesen würde. Dass der Widerstand des Arbeitsmarkts, d.h. der Unternehmen, mindestens so hartnäckig ist, wie derjenige der Individuen, zeigt auch die bisherige Bilanz der vierten IV-Revision. Die Wiedereingliederung erweist sich viel schwieriger als erhofft, weil schlicht zu wenige Arbeitsplätze angeboten werden.

Im Falle der Individuen wird eine Art absolute Arbeitswilligkeit konstruiert, die völlig unabhängig von Anforderungen und Angeboten sein soll. Entweder man ist arbeitswillig oder man ist es nicht. Die Abschaffung der Zwangsarbeit (zB der Leibeigenschaft oder der Sklaverei) war nicht nur aus humanitären Gründen notwendig, sondern weil sie wirtschaftlichen Fortschritt, sprich Innovation, verhindert hat. Die in der Schweiz angesiedelte Wirtschaft braucht keine Arbeitskräfte, die durch schiere Not oder andere Zwangsmittel in die Jobs gezwungen wird. Solche Jobs sind längst ausgelagert in wirtschaftlich weniger entwickelte Gebiete in Osteuropa, Asien usw.

Wer Arbeit um jeden Preis oder Ausschluss aus der Sozialhilfe will, interessiert sich nicht für die Menschen selbst, sondern stellt die gesellschaftliche Solidarität mit den Opfern des Fortschritts in Frage. Damit gibt er einen entscheidenden Faktor preis, der diesen Fortschritt und den damit verbundenen Wohlstand ermöglicht hat. Arbeit bedeutet für die meisten Menschen in unserer Gesellschaft viel mehr als die blosse Existenzsicherung. Weshalb sonst die Bemühungen und Investitionen in sorgfältige Berufswahl, durchlässigere Bildungssysteme usw.? Menschen sollen und wollen sich in der Arbeit auch entwickeln und Sinn finden können. Warum sollte das eigentlich für Menschen, die Sozialhilfe beziehen, nicht gelten? In der praktischen Sozialhilfe könnte es dann darum gehen, Potentiale und Motivationsquellen zu erforschen und tatsächliche, annehmbare Entwicklungs- und Verwirklichungsmöglichkeiten zu entdecken und zu unterstützen.

Folgende Links führen bieten weiterführende Gedanken, Standpunkte und Reaktionen auf die aktuelle Debatte – und unterstützen eine fachlich-differenzierte Argumentation:
Peter Schallberger, Bettina Wyer: Praxis der Aktivierung. Eine Untersuchung von Programmen zur vorübergehenden Beschäftigung. Erschienen 2010 bei UVK.
Peter Sommerfeld: Stellungnahme zu den Veröffentlichungen der Sonntagspresse zum Thema „Sozial-Irrsinn“
Denknetz.ch: Heraus aus der Sackgasse! Argumente für eine grundlegende Neuausrichtung der Sozialhilfe