Übersehen, versteckt, ungehört

Ein Soziologiekongress in St.Gallen nimmt unerforschte Gesellschaftsbereiche in den Blick – Selbstverletzungen, Burn-Out, gesellschaftliche Eliten und Self-tracking-Technologien sind einige der Themen, die im Rahmen der Konferenz «Unexplored Realities » vom 6. bis zum 8. September 2018 an der FHS St.Gallen diskutiert werden.

Während vier Tagen kommen über 70 WissenschaftlerInnen aus ganz Europa und Übersee in St.Gallen zusammen, um sich jenen Fragen der Gegenwart zu stellen, die zwar den gesellschaftlichen Alltag prägen, jedoch aus verschiedenen Gründen kaum oder nur ungenügend erforscht sind und häufig im öffentlichen Bewusstsein ein Schattendasein fristen. Im Vordergrund stehen dabei nicht nur schwer zugängliche Bereiche unserer Gesellschaft (etwa die Managementetagen grosser Unternehmen, die Hinterbühnen von Spitälern oder kriminelle Organisationen), sondern auch sozialwissenschaftlich schwierig erschliessbare Sinneswahrnehmungen (etwa der Tast- oder Geruchssinn).

Der Kongress in St.Gallen setzt sich zum Ziel, bedeutende Impulse für den state of the art im internationalen Feld der qualitativen Forschungsmethoden zu geben und nicht zuletzt auch die Grenzen der Erforschung vernachlässigter Gesellschafts- und Sinnesbereiche neu auszuloten.

Über 70 Vorträge

Exemplarisch für das existentielle Eintauchen in die Lebenswelten stehen die Keynote Speaker Patricia und Peter Adler, die sich immer wieder über Jahre hinweg auf häufig schwer zugängliche Forschungsgebiete eingelassen haben: die Hinterbühnen von Luxushotels, das versteckte Leben von Jugendlichen, die sich selbst verletzten, Drogenhandelsszenen in der amerikanischen Mittelklasse – Lebenswelten, die man mit standardisierten Fragebögen kaum angemessen verstehen kann.

Am Puls der Gesellschaft

Die rund 70 Vorträge, die sich mit einer grossen Bandbreite an Themen beschäftigen, zeigen, dass die Nähe zum Alltag die Forschenden nicht nur für neue Entwicklungen sensibilisiert, sondern sie dazu anregt, Bereiche zu untersuchen, die gerade nicht «en vogue», aber dennoch Teil unserer Gesellschaft sind und in die wir möglicherweise unmerklich selbst verstrickt sind. Patrica Adler wird bspw. darüber berichten, wie sie und Peter Adler zu einer Zeit, in der sich nur wenige dafür interessiert haben, begonnen haben, die Selbstverletzungen von Jugendlichen zu erforschen. Die Forschung beschränkt sich dabei nicht darauf, den Jugendlichen eine Stimme zu geben; die Analyse der Adlers zeigt entgegen dem weit verbreiteten «gesunden  Menschenverstand», dass hier häufig nicht ein medizinisch zu behandelndes Problem vorliegt, sondern dass es sich um soziale Übergangsrituale handelt.

Aber auch andere Fragen verlangen nach einer genaueren Betrachtung. Wie kommt es beispielsweise zu (fatalen) medication errors in Spitälern – Fehlern, von denen alle hören, aber nur wenige wirklich etwas darüber wissen? Anstelle der – oftmals medial und politisch geforderten – Suche nach Schuldigen geht es aus einer soziologischen Perspektive darum, das komplexe Zusammenspiel zwischen Spitalstrukturen und neu eingeführter Informationstechnik zu verstehen. Ross Koppel hat über Jahre hinweg die Auswirkungen der ITSysteme in Spitälern amerikanischer Elite-Universitäten untersucht, dabei aber nicht nur beobachtet und Interviews geführt, sondern selber die unterschiedlichen Computerprogramme und Applikationen studiert, mit denen Ärzte in Spitälern konfrontiert sind. Koppels Forschung zeigt zudem, wie statistische Verfahren mit qualitativer Forschung kombiniert werden können. In zwei weiteren Keynote-Vorträgen und mehreren Dutzend Beiträgen diskutieren die Kongressteilnehmenden die Herausforderungen, vor die man bei der Erforschung solcher Phänomene gestellt ist: u.a. der Aufbau von Vertrauensverhältnissen, die Bewahrung kritischer Distanz und eine möglichst vorurteilsfreie Betrachtung. Als Forschungsobjekt und Forschungsinstrument werden vor allem auch die neueren digitalen Technologien diskutiert werden – als Herausforderung und Chance für die qualitative Forschung.

St.Gallen als Zentrum qualitativer Forschung

Veranstaltet wird die Konferenz durch das schweizerische Forschungskomitee Interpretative Sozialforschung sowie das europäische Forschungsnetzwerk Qualitative Methods, das von den St.Galler Soziologen Thomas S. Eberle und Christoph Maeder mitgegründet wurde.

Nachdem die erste grosse Konferenz des Netzwerks im Jahr 2002 in St.Gallen durchgeführt wurde, wird das diesjährige Treffen wiederum von St.Galler Soziologen organisiert: von Florian Elliker, der als ständiger Dozent an der Universität St.Gallen (HSG) lehrt und forscht, sowie von Niklaus Reichle, der an der HSG promoviert und als Lehrbeauftragter an der Fachhochschule
St.Gallen (FHS) arbeitet. Unterstützt wird die Konferenz zudem von Peter Schallberger, der an der FHS lehrt und forscht. St.Gallen bleibt damit in Europa ein wichtiger Ort für qualitative Forschung.

Weitere Informationen finden Interessierte auf der Kongress-Website.